Die Begeisterung für unsere Nationalspieler nimmt geradezu massenhysterische Formen an. Wie die Klinsmänner in Stuttgart gefeiert werden, was sich auf den Straßen abspielt, erinnert schon fast an die Beatles. Es sind nur mehr Leute unterwegs. Ich kann allen nur raten, am Sonntag zur Berliner Fan-Meile zu kommen. Die Abschiedsparty der Nationalhelden wird unter dem Motto stehen: Ganz großes Kino, ganz große Gefühle.
Was man nicht so alles von Taxifahrern lernen kann - beziehungsweise von Taxifahrerinnen. Meine Chauffeuse ("Sorry, no pictures please") plappert munter drauf los - ich nehme an, auch das bezeichnet man als Berliner Schnauze.
Die Atmosphäre in der Hauptstadt findet sie "richtig Irre". Dann erzählt sie von ihrer Reise nach
Dharamsala: "Das erinnert mich an meine Begegnung mit dem Dalai Lama vor 10.000 Leuten, nur ohne das Gegröhle halt. Da war auch so ein 'Vibe' in der Luft. Irre! Ich frage mich nur, ob man das Ganze nicht auch auf andere Bereiche übertragen kann. Ich meine das sollte man echt mal überlegen." Recht hat sie.
Ich weiß nicht, ob "Seine Heiligkeit", bürgerlich Tenzin Gyatso, bei der WM in Deutschland war oder ist. Sicherlich wird ihm der verbindende Gedanke des Sports sehr gefallen. Die Freude über das Zusammensein friedlicher Menschen ohnehin. Toleranz und Selbstdisziplin - auch auf der Fanmeile. Fußball als spirituelle Praxis? Ich werde es überprüfen.
Und bei der Meditation geht es ja auch um das Fixieren auf eine Sache - bis zur Erlösung - bis Sonntag.
Anders als ursprünglich geplant bin ich bereits einen Tag früher nach Berlin gefahren. Jetzt noch spontan ein freies Hotelzimmer zu finden gleicht der Suche nach einem leckeren Bier in einem WM-Stadion. Aber zum Glück gibt es in Berlin unzählige Menschen, die das Motto: „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wörtlich genommen haben. Auf der Website
host-a-fan.de
wird fast jeder Zimmerwunsch erfüllt: Über 200 Angebote für Einzel- und Doppelzimmer, angeboten von Rentnern, Familien, Singles und WGs locken zu Preisen zwischen 15 und 150 Euro pro Nacht. Soll es „ein Zimmer im coolsten Photoatelier im Szenebezirk Prenzlauer Berg“ mit Schminkspiegel und Küchenmitbenutzung sein (Sehr nett: „Gerne machen wir auch mal ein Foto in Eurem Lieblingstrikot“)? Oder bekämpfe ich die Einsamkeit bei meinem Singletrip in die Hauptstadt lieber mit einer Familienanschlussgarantie („Don't worry if you have just a few tickets, we'll bring the big TV up to the roof garden and watch the games while we're having BBQ.”)? Für Kurzentschlossene wie mich gibt es für heute Abend an die 50 Angebote mit „Last-Minute-Service“, bei denen der Anbieter angeblich über Handy jederzeit erreichbar ist. Mal gucken, ob es klappt und ob mir heute Nacht jemand das Bett mit Arminia-Bielefeld-Bettwäsche beziehen wird – bei der erstmaligen Anmeldung auf der Internetseite durfte ich nämlich auch meinen Lieblingsfußballverein angeben.
Das ist heute meine Lieblingsmeldung unter den vielen Neuigkeiten des Tages: Ein bekannter Sportkleidungshersteller hat Probleme die Trikots der Nationalmannschaft zu beschriften. Die Buchstaben sind ausgegangen! Insbesondere das "A" und das "E" würden fehlen.
Das heißt für das Spiel um den dritten Platz: Bllck auf dem Spielfeld und Khn im Tor.
Wie gut, das unsere Elf schon fertig ausgestattet ist und die Trikots komplett hat. Nur die Fans trifft es hart.
Ein blaues Käfer Cabrio, Baujahr 1967, schraubt sich in einem Internet-Auktionshaus gerade in schwindelerregende Euro-Höhen. Über 160.000 Euro werden für das Gefährt geboten, mit dem unser (Noch?-)Bundestrainer Jürgen Klinsmann Mitte der 90iger Jahre zum Training der Tottenham Hotspurs kurvte. Ein Böblinger hatte das Auto in einem erbärmlichen Zustand in einem britischen Autohaus gekauft und 2003 - also ein Jahr bevor "Klinsi" das Ruder übernahm - restaurieren lassen. Mein Opel Astra 1.8i (Bj. 1991) ist auch in einem verlotterten Zustand, hat aber leider keinen prominenten Vorbesitzer. Den müsste ich schon verschenken, um ihn los zu werden. Glück muss man haben!
Eine Reihe vor mir im ICE nach Berlin geht es im Gespräch zweier Männer um Jürgen Klinsmanns Zukunft: Mit Argumenten wie "Hohe Flugkosten" und "Gummiband-Trainings-Albernheiten" könnte der eine glatt als ewiggestriger DFB-Funktionär durchgehen. Der andere dagegen kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus: Als "Magischen Motivator" huldigt der Jürgen-Jünger dem neuen deutschen Fußballmessias. Auf einem Fensterplatz hinter mir bestätigt eine Frau hingegen alle meine Vorurteile: Nicht Zizous Traumpässe stehen im Mittelpunkt ihrer Schwärmerei. Was für sie zählt, ist "seine sexy Glatze". Selbst Zidanes ständiges Gerotze im Halbfinale verzeihe sie ihm, teilt sie ihrer Gesprächspartnerin via Handy mit.
Was ich im ganzen Zug vergeblich suche, sind WM-Pilger, die wie ich in diesem Zug sitzen, weil sie zum Finalwochenende in die Hauptstadt fahren. Wo sind die Franzosen, deren Wangen in den Farben der Tricolore strahlen, wo die Italiener, die sich mit dem Finale vom tristen Bestechungsalltag in der Heimatliga ablenken?
Falls Sie erst später eingeschaltet haben: Diese zehn Begriffe müssen Sie kennen, um bei der WM mitreden zu können. Unser kleines WM-Lexikon:
Kringel-Dreher: Bisschen abwertender Begriff für die Spielweise von Bernd Schneider (Gegenteil von One-Touch-Fußball). Der Nationalspieler dreht häufig mit dem Ball eine kleine Runde, ohne dass dadurch ein tatsächlicher Raumgewinn entstehen würde. Der Ausdruck K.-D. wurde zuerst in der Süddeutschen Zeitung formuliert.
Malibu-Optimismus: So bezeichnete Bundesliga-Trainer Hans Meyer in einem Interview die grundsätzlich positive Spiel-Philosophie des in Kalifornien lebenden Bundestrainer Jürgen Klinsmann.
One-Touch-Fußball: Moderner Kombinationsfußball, bei dem die Spieler den Ball nicht annehmen, sondern direkt weiterpassen.
Public Viewing: Von der FIFA eingeführtes WM-Vokabular für organisiertes, gemeinsames Fußball gucken unter freiem Himmel. In Deutschland ein in dieser Dimension neues Phänomen.
Raufhandel: FIFA-deutsch für Rangelei, Artikel 49 des Disziplinarreglements. In einen R. war Torsten Frings nach dem Viertelfinale gegen Argentinien verwickelt und wurde daraufhin gesperrt.
Semimembranosussehne: Medizinischer Ausdruck. Die S. in der linken Kniekehle hatte sich Michael Ballack vor dem Spiel um Platz drei entzündet.
Thera-Band: Großes - in der deutschen Öffentlichkeit erst belächeltes - Gummiband für Kraft- und Fitnessübungen, mit dessen Hilfe Bundestrainer Klinsmann die Nationalspieler extrem fit machte.
Torverhinderungsgeneral-taktik: Intellektueller Begriff für "Die-Null-muss-stehen", bedeutet: jeder Spieler arbeitet bei Ballbesitz des Gegners defensiv mit, so dass eine Überzahlsituation gegenüber dem ballführenden Spieler entsteht. Die T. führte bei dieser WM zu einer großen Torflaute.
WaGs: engl., Abk. für Wives and Girl-Friends der englischen Nationalspieler, Wortschöpfung der britischen Boulevardpresse. Die WaGs sorgten durch ihr extravagantes Auftreten im Aufenthaltsort Baden-Baden für Glamour und Aufsehen.
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